Gesichter, die man nie mehr vergisst.
Text: Marion Hartmann
22.12.2019
Ich befand mich in unserer Bäckerei, die großen Scheiben geben einen weiten Blick frei zur Hauptstraße.
Gleich müsste der hochgewachsene, graumelierte Iraker kommen und an der Stelle sein, wo er auf den Behindertentransport wartet, um das Kind abzuholen, von dem ich vermute, dass es nicht das eigene ist, denn das Ehepaar ist weit über die Sechzig. Wo ist seine Frau? Vielleicht ist sie krank, ich weiß es nicht. Sonst holt sie immer das Kind ab. Ich sah diesen Mann im Sommer. Es war zu heiß, um die Verbrennungen an Hals und Armen zu verdecken. Eine große Sonnenbrille soll wahrscheinlich die Blicke von den Verbrennungen im Gesicht ablenken. Ich weiß nicht, was passiert ist, sie sprechen kein Wort Deutsch, außer "Danke"!
Uranmunition? Phosphor? Ich hoffe, irgendwann alles zu erfahren.
Jetzt kommt er, schräg über die Hauptstraße. Immer ist Flucht in seinem Gang. Er läuft sehr schnell und schaut nach allen Seiten. Er geht vorbei an der Stelle, wo das Kind mit dem Transport kommen muss, nimmt den geraden Weg zum Kaufmarkt, dort, wo auch die Bäckerei ist, dort, wo ich auf ihn warte.
Aha, es ist noch nicht soweit, er hat noch Zeit, will wahrscheinlich schnell noch etwas einkaufen.
Ohne Wagen, wie immer. Alles, was er und seine Frau kaufen, passt in ihre Hände.
Ich fange ihn ab. Ein Brief in Arabisch von mir und eine Pflanze für seine Frau. Sie liebt Pflanzen über alles.
Ich weiß es, seit ich ihr vor 1 Jahr einen Blumenstrauß überreichte. Mit Tränen in den Augen fiel sie mir um den Hals. Die Pflanze mit ihrem schönen Übertopf steckt in einer kleinen, passenden Tragetasche mit Rosenmuster. Er kommt, sieht mich, stockt. Ich sage ihm, die Pflanze ist für seine Frau. Er scheint zu verstehen und lächelt. "Danke"! Ja, das Wort kann er aussprechen. Aber ich bin es, die dankt. Immer wieder.
Mal ist es ein Blumenstrauß und mal eine Umarmung auf der Straße, man trifft sich ab und zu, wohnt nah beieinander. Und heute nun ein erster Brief in Arabisch. Er faltet den Brief auf und sein Gesichtsausdruck bedeutet - ein Brief, aber ich bin der deutschen Sprache nicht mächtig. Doch dann sieht er die arabische Schrift: "Meine lieben Freunde...", jetzt ein Gesicht, das man nie mehr vergisst. Er ist total gerührt.
Er liest nur: "Meine lieben Freunde..", weiter kommt er nicht. Ich sehe, er ist den Tränen nahe, aber er kann nicht weinen, er müsste seine übergroße dunkle Brille absetzen, um die Tränen abzuwischen, das würde die Verbrennungen freigeben. Er schiebt den Brief zwischen die Pflanze. Ich weiß, er wird ihn später lesen im Beisein seiner Frau. Mich treffen harte Blicke. Dieses kleine Szenario ist einem dort in der Bäckerei sitzenden Mann wichtiger als seine Torte auf dem Tisch. Auch meinem Freund, dem Iraker, bleiben diese Blicke nicht verborgen. Er kennt sie nur zu gut! Eine Mischung zwischen Ablehnung und Hass. Sie sind nicht willkommen hier in dieser Gegend, der große graumelierte Mann mit seinen Verbrennungen.., seine kleine warmherzige Frau mit Kopftuch und das behinderte Kind.
Niemand fragt: "Woher kommen diese Verbrennungen? Wer sind diese Menschen? Wer ist dieses Kind?"
Es könnte das Enkelkind sein, vielleicht kam die Tochter ums Leben. Oder sie nahmen ein Waisenkind mit auf ihre Flucht nach Deutschland.
Was schrieb ich in diesem Brief in arabischer Sprache? Dank! Nichts als Dank! Und meine Adresse.
"Sollten Sie irgendwann etwas brauchen, kommen Sie zu mir. Vielleicht bringen Sie einen Dolmetscher mit.
Neben Ihrem Haus ist ein arabisches Geschäft, der Inhaber spricht deutsch! Zu jeder Tages- oder Nachtzeit können Sie kommen, wenn Sie Hilfe brauchen. Meine lieben Freunde!"
Dank! Wofür eigentlich? Es war im Jahr 2017, als ich schwer stürzte. Ich brach mir 4 Zehen und hatte eineKopfverletzung. Ich kam vom Boden nicht mehr hoch. Und da standen sie da.., der Mann, seine Frau und das Kind. Der Mann zog mich vom Boden hoch, die Frau sicherte meine Hunde, deren Leinen ich beim Sturz verloren hatte. Dann kamen Anwohner hinzu und konnten mich und die Hunde nach Hause bringen.
"Meine lieben Freunde..", sie werden es immer bleiben, hier schlagen Herzen zusammen einen gleichen Takt.
Eva Schmelzer (Mittwoch, 15 Januar 2020 20:18)
Mir sind die Tränen in die Augen getreten bei dieser Geschichte. Marion hat eine außergewöhnliche Gabe, Menschen zu beobachten und einzuschätzen, ja, zu lieben, ohne dass es Worte oder näheren Kontakt bedarf. Eine Geste, ein Blick, das Verhalten eines Fremden genügt. Und sie kennt keine Schubladen, in die sie vorschnell steckt und die sie für immer verschließt, sie ist objektiv und gerecht. Aber ich glaube, sie soweit zu kennen, dass ich sagen darf: Sie macht auch keine Unterschiede, wenn es um Missfallen oder Kritik an einem Fehlverhalten geht, egal welcher Nationalität, Glaubens oder Herkunft jemand ist. Und das ist richtig! Alle Menschen sind gleich, haben die gleichen Rechte, aber auch die gleichen Pflichten. Und niemand hat einen Bonus, aber auch keinen Malus!
Erikabulow-#osborne (Mittwoch, 15 Januar 2020 16:24)
Marions Freundschaft zu dieem besonderen Iraker Ehepaar mit einem behindertn Jungen ist sehr beruehrend. Als Verstaendigungsmittel diente nur ein Laecheln, ein Haendedruck, oder das deutsche Wort “Danke”.
Es veranlasste mich, ueber Dank nachzudenken. Marion beobachtete im Kaufhaus die feindlichen Blicke, als sie mit dem Iraker Freundlichkeit austauschte. Wahrscheinlich war es eine Furcht vor andersprachigen Menschen, deren Sprache nicht gelaeufig war.
Selbst Marion konnte nur durch Gesten mit ihnen sprechen, bis sie die moderne Technik fuer sich entdeckte und mit viel Muehe einen Satz in Arabischer Schrift fand, den sie auf einem Briefbogen kopierte. Ein einziger Satz, der jeden Stress des Nichtverstehens ausloeschte.
Die Macht des Wortes, die Kraft ganzer Wortbildung zu Saetzen.
Sie trennen oder sie verbinden Menschen. Hier entstand eine Freundschaft, die durch einen schlimmen Unfall ausgeloest worden war, als das Ehepaar erste Hilfe-Leistung fuer Marion geben konnte.
Dank kommt von Denken, ein sich aeusserndes Gefuehl, welches echte Anteilnahme bedeutete. Ich wuenschte, Marion wuerde einen jungen Iraker finden, der genug Deutsch versteht, um ihre Geschichte in verkuerzter Form auf arabisch niederzuschreiben. Das waere das schoenste Geschenk fuer das iranische Ehepaar und fuer Marion selbst.