Die goldene Brücke
Text und Foto: Jürgen Engelmann
25.10.2019
Die goldene Brücke
Es mag viele goldene Brücken auf der Welt geben. Aber es gibt nur eine, die nie einstürzen wird. Auf die Verlass ist. Die uns trägt, ohne, dass wir einen Fuß vor den anderen setzen müssen. Diese Brücke ist der Herbst. Eine natürliche goldene Brücke, die uns, jedes Jahr aufs Neue, vom Sommer zum Winter geleitet.
Der Herbst führt uns von Warm zu Kalt, von Grün zu Bunt, von der Blüte zur Ernte.
Er trägt uns hinüber.
Zunächst sanft noch, wie der milde Spätsommer. Dann ruft er seine Gesellen, den Sturm und den Regen herbei und schließlich ergeben sich die letzten bunten Blätter dem einsetzenden Frost.
Aber der Reihe nach.
Noch ruht er still im Schoß des späten, müden Sommers. Erst wenn diesem die Puste ausgeht, dann öffnet er die Augen und übernimmt die Herrschaft über das Land. Er lässt die letzten Früchte in der Sonne reifen, begleitet launisch die Ernte und wartet ungeduldig, bis alles in Stall, Scheune und Keller gespeichert ist.
Er taucht die Wälder in die Farben. Gibt den Blättern einen festlichen Schmuck für ihren ersten und letzten Flug zur Erde.
Längst sind die Zugvögel auf ihrer weiten, gefährlichen Reise.
Jetzt hat er freie Bahn, jetzt legt er los. Rüttelt an den Bäumen. Es regnet Walnüsse und letzte Äpfel und Birnen, Kastanien, Bucheckern und Eicheln.
Am Ende schweben taumelnd die letzten bunten Grüße des goldenen Herbstes von den Bäumen zur Erde herab. Ihr Grab ist die Wiege für neues Leben.
Die Natur, ein einziges großes Wesen, erhält sich selbst. Nichts geht verloren. Es gibt keinen Abfall. Alles hat seine Aufgabe, seine Bestimmung und seinen Sinn. Und wir gehören dazu, mehr - verdammt nochmal - nicht ! Wir gehören auch nur dazu.
Es wird kälter. Silbern glänzen am Morgen die Dächer im Dorf und die Äste an den Bäumen. Auch die Leitungen hoch oben, auf denen vor einigen Tagen noch die Schwalben ihre große Reise besprachen, sind dick vom Reif umhüllt. Das Jahr ist in seinen Herbst gekommen. Kinder, wie die Zeit vergeht.
Und dann eines Morgens schauen wir staunend durch Eis geblümte Scheiben. Wir sind am Ende der Brücke angekommen. Dort wartet schon der Winter auf uns.
J. Engelmann
Herbst 2019
Eva Schmelzer (Mittwoch, 27 November 2019 15:11)
Immer mehr sucht der Mensch nach “Erlebnissen”, nach “Ablenkung”, flüchtet sich in Cyber-Welten, sieht nicht mehr das, was ihm Tag für Tag an Schönheiten offenbart wird. Ist nicht diese Schilderung des Herbstes genug, um die reale Welt erleben zu wollen? Nicht die, die Menschen gestalten, sondern die, die uns die Natur beschert in ihrem immerwährenden Kreislauf von Vergehen und neuem Werden. Entwickeln wir doch wieder ein Gefühl der Dazugehörigkeit, dann öffnen sich auch wieder unsere Augen.
selene1 (Donnerstag, 31 Oktober 2019 17:03)
Ein traumhaft schönes Foto und ein sehr berührender, wunderbarer Text.Danke