Interview mit dem Wolfsexperten Günther Bloch
Auszug aus einem Interview mit Günther Bloch, Hunde- und Wolfsforscher – mit sehr aktuellen Bezügen!
20.08.2023
ATN: Herr Bloch, in Deutschland hat ja mancher wirklich Angst, dass es bald zu viele Wölfe geben könnte – so rasant wie sich die Spezies im Augenblick ausbreitet. Lässt die Biologie „zu viele Wölfe“ überhaupt zu?
GÜNTHER BLOCH: […] Ihre Anzahl ist natürlichen Reglementierungen unterworfen – Krankheiten, Alter, Nahrungsangebot, Abwanderung – sie können sich gar nicht „unkontrolliert“ vermehren, weil die ganz natürlichen Umweltbedingungen „kontrollierend“ auf sie wirken. In einer Wolfsfamilie leben immer nur so viele Wölfe, wie das Gebiet ernähren und beherbergen kann. Und jede Familie besetzt ihr eigenes Territorium. Ist irgendwann alles besetzt und verteilt, werden es nicht noch mehr Wölfe, weil alle, die für sich keinen Platz finden, abwandern. Die laufen dann so lange, bis sie irgendwo wieder auf freies Gebiet stoßen. Wölfe expandieren also in Territorien, die frei sind und sich als Lebensraum eignen. Aus Wolfssicht ist Deutschland ziemlich frei – deswegen steigt die Zahl der Wölfe aktuell. Die Frage ist unterm Strich nicht, ob es irgendwann zu viele Wölfe gibt, sondern wo und inwieweit wir bereit sind, Wölfe zu dulden.
ATN: Wölfe gelten ja als sehr anpassungsfähig – passt sich wirklich jeder Wolf an das Umfeld an, in das er hineingeboren wird?
GÜNTHER BLOCH: Was wir wissen: Wölfe besitzen die Fähigkeit, an geographischen Besonderheiten – der Form von Tälern etwa, dem Vorhandensein von Vegetation und Deckung, Wasser und ähnlichem – geeignete „Wolfsgebiete“ zu erkennen. Sie erkennen auch den Nutzen von Infrastruktur. Sie müssen nicht jedes Mal von der Pike auf lernen, auf Eisenbahngleisen oder Waldwegen, Straßen etc. zu gehen. Sie sehen dergleichen und wissen unmittelbar wozu es gut ist. Sie wissen aber auch, dass Orte, die „schön“ sind, besetzt sein können. Und aller meistens laufen nach Territorium suchende Wölfe weiter, wenn sie auf Konkurrenz stoßen. Natürlich gibt es auch territoriale Streitigkeiten. […]
ATN: Dann sehen Wölfe Menschen von sich aus nicht unbedingt als Konkurrenz an, oder?
GÜNTHER BLOCH: Vielleicht ist es für Wölfe selbstverständlicher und natürlicher, mit anderen Spezies zu koexistieren, als für uns Menschen. Wölfe besitzen die Fähigkeit, sich mit Konkurrenten zu arrangieren. Menschen neigen dazu, Konkurrenz zu vernichten. Der Witz ist, dass Jagddruck durchaus dazu führen kann, dass sich Wölfe zurückziehen – sie wissen aber sehr genau, dass es dort am sichersten ist, wo die Menschen wohnen. In Stadtrandgebieten und Dörfern schießt keiner.
ATN: Wölfe gehören ja auch zu den Spezies, die Kulturen etablieren und Traditionen weitergeben – Stichwort „Überlebensstrategien vorleben“. Könnte man dieses Wissen nicht nutzen, um sie vielleicht ein Stück weit in unserem Sinne zu „erziehen“?
GÜNTHER BLOCH: Na klar. Wenngleich Kultur nicht gleich Tradition ist. Man kann Wölfen „beibringen“, dass Nutztiere etwa keine adäquate Beute sind. Mit ganz grundsätzlichen Herdenschutzmaßnahmen, die durch individuelle Strategien ergänzt werden. Wölfe sind schlau, es kostet sie ein Lächeln, vermeintliche Patentrezepte „von der Stange“ zu unterwandern und auszuhebeln. Aber wenn man selber clever ist, kann man es schaffen, ihnen eine Idee voraus zu sein. Wenn wir Wölfen ermöglichen, zu lernen, was wir wollen, dass sie lernen – zum Beispiel Schafe, Pferde oder Kühe links liegen zu lassen, wenn sie auf Jagd gehen – und wenn wir ihnen dann erlauben, das Gelernte an ihre Nachkommen weiterzugeben – unter anderem, indem wir Wölfe nicht bejagen – haben wir ziemlich gute Karten, wirklich nachhaltig mit Wölfen leben zu lernen. Ich habe in der Slowakei Wolfsrudel beobachtet, die in der Nähe von Dörfern siedelten. Ihre Jagdgründe hatten sie in den Wäldern. Zwischen Dorf und Wald befanden sich Kuhherden. Was hatten wir für einen Spaß, die Wölfe jeden Tag mitten durch Kuhherden laufen zu sehen, um in den Wäldern jagen zu gehen. Sie hätten tausende Gelegenheiten gehabt, Kühe zu töten. Haben sie aber nicht gemacht. Weil sie von irgendwelchen Wölfen lange vor ihnen eine Tradition übernommen hatten, genau das lieber nicht zu tun. Unterm Strich ist es genau wie bei uns: manche Tiere essen wir, andere setzen wir auf unsere Sofas. Auch Wölfe fressen nicht alles, was ihnen vor die Schnauze kommt.
ATN: Sie plädieren also dafür, Wölfe nicht zu jagen, damit sich Jungtiere an Alttieren quasi „vom Menschen erwünschtes Verhalten“ abschauen können?
GÜNTHER BLOCH: Genau. Das ist zwar nicht der einzige Grund, aber ein wichtiger. Zumal Wölfe, die mit einer adäquaten Überlebensstrategie, einem „Plan“, von zu Hause abwandern, diese Strategie mitnehmen. Lassen sich abwandernde Wölfe in freien Territorien rund um das Elternrevier und darüber hinaus nieder, hat man nach drei, vier Generationen eine kleine Dynastie in dem betreffenden Gebiet. Es lohnt sich, diese Dynastien zu schützen, weil in ihnen die Traditionen weitergereicht werden, es wird eine bestimmte Kultur gelebt, und aus der brechen Wölfe nicht mehr einfach so aus. Zumindest, wenn man als Mensch ein Auge auf die Rahmenbedingungen behält.
ATN: Was ist mit sogenannten Problemwölfen?
GÜNTHER BLOCH: Echte Problemwölfe sind Ausnahmen. Natürlich muss man hier eine Grenze ziehen und schauen, ab wann ein Verhalten tatsächlich nicht mehr tolerierbar ist. […] Wir erinnern uns: Wolfseltern sind diejenigen, die den Jungen Weisheiten vorleben, was wo wie zu tun ist. Schießt man sie ab, bleiben konfuse Jungtiere zurück, die nicht richtig wissen, wie das reale Leben funktioniert. Mit Abschussquoten nehmen wir uns und dem Wolf – wie wir gesehen haben – jede Chance, eine vernünftige Koexistenz des gelassenen Miteinanders zu entwickeln. Wer die Weisheit aus einer Wolfsfamilie herausschießt, zwingt die Hinterbliebenen, sich Beute zu erschließen, die der Weisheit nicht bedarf. Wer nach Abschussquoten für Wölfe ruft, muss sich im Klaren darüber sein, wie sehr er Nutztiere damit gefährdet.