Todes-Mais
Autor: Torsten Jäger
Leseprobe
Erstes Kapitel
... in dem an einem Sonntagmorgen die Leiche eines Mannes in Bodenheim
gefunden wird.
„Todeszeitpunkt?“
„Ich schätze, es war der frühe Morgen. Näheres kann ich
aber erst sagen, wenn ich ihn mir genauer angeschaut hab.
Und eh das Gerumpel da noch näher kommt und wir hier
klatschnass werden, würd ich sagen, wir laden ihn ein.“
Der Gerichtsmediziner deutete zu den Gewitterwolken,
die sich am Horizont schwarz übereinanderschoben. „Die
Fotos sind gemacht, die SpuSi hat gesichert, was es zu sichern
gab ...“
„Mein lieber Herr Gesangsverein“, brummte der Kommissar
aus seinem grau melierten Dreitagebart hervor, genauso,
wie seine Kollegin es erwartet hatte. Kommissar Kelchbrunner
und der Gerichtsmediziner Kunze schienen es sich zur
Lebensaufgabe gemacht zu haben, sich gegenseitig zu kritisieren
und zu attackieren. Dabei waren sich beide in gewissen
Charaktereigenschaften ähnlich. Allem voran in ihrem Sarkasmus.
Gleichzeitig legten beide dasselbe Sturkopf-Verhalten
an den Tag, gepaart mit ziemlichem Imponiergehabe. Als
Außenstehender hätte man glatt meinen können, beide könnten
sich auf den Tod nicht ausstehen. Doch Katharina Juvanic
war inzwischen von dieser These abgerückt. Ab und zu
schlugen die Streithähne zwar gerne etwas über die Stränge.
Aber alles in allem konnte man das altbekannte Sprichwort
„Was sich liebt, das neckt sich“ auf sie anwenden.
„Besitzen Sie vielleicht die Großmut und lassen mich, als
ermittelnder Kommissar, entscheiden, welche Spuren ich für
die Ermittlungen benötige und daher auch, welche die SpuSi
denn nun sichern soll?“
„Sicherlich! Das tue ich sehr gerne“, sagte Kunze in einem
übertrieben freundlichen Tonfall. Aber er setzte energischer
nach: „Wenn Sie dann nachher auch die ehrenwerte Aufgabe
übernehmen, unserer Leiche hier die klatschnassen und
schlammigen Klamotten auszuziehen. Sollten wir sie so lange
hier liegen lassen, bis das große Unwetter tobt …“
„Entschuldigung, Herr Kollege, aber das ist Ihr Part. Was
machen Sie denn bei Wasserleichen? Hängen Sie sie erst zum
Trocknen, ehe Sie sie obduzieren?“
„Nein, aber ich werf sie nicht noch absichtlich in den
Matsch!“
„Das habe ich auch nicht von Ihnen verlangt. Ich möchte
nur einen Moment Zeit, um mich hier ein wenig umzuschauen.“
Der Gerichtsmediziner machte eine einladende Handbewegung.
„Bitte schön. Viel Spaß dabei.“ Er gab sich keine
Mühe, den Zynismus in seiner Stimme zu verbergen.
Juvanic beobachtete ihren Kollegen, wie er mit großen
Schritten auf und ab ging und so tat, als suche er nach etwas,
das er verloren hatte. Doch er konnte sie nicht täuschen. Sie
war sich sicher, dass es sich hierbei einzig um eine Art von
Revierkampfgeste handelte. Denn es gab hier nichts zu sehen,
auf einem betonierten Weg inmitten der Bodenheimer
Gemarkung mit der schönen Bezeichnung „Leidhecke“.
Sie selbst hatte zuvor die schockierte Joggerin Maja Roth
befragt, die das Opfer entdeckt und Polizei sowie Notarzt
gerufen hatte. Und diese hatte nichts weiter sagen können,
als dass sie das Opfer gegen 7 Uhr leblos vorgefunden und
sofort die Polizei verständigt hätte. Die Personalien hatte
Juvanic aufgenommen, die Frau den Schauplatz bereits verlassen.
Juvanic spürte erste Tropfen. Sie schloss sich insgeheim
Kunzes Wunsch an, dass Kelchbrunner seine Arbeit beschleunigen
möge. Weitere Tropfen trafen ihr schulterlanges,
glatt hängendes, rötliches Haar. Sie durfte nicht daran denken,
was passierte, wenn ihre Haare nass würden: Sie begannen
sich dann nämlich wie wild zu kräuseln, was sie hasste.
Auch der Himmel schien etwas mehr Tempo nahezulegen.
Ein lauter Donner löste Kommissar Kelchbrunner aus
seiner inszenierten Suchorgie und er sah sich die Leiche noch
mal genauer an, deren Gesicht rotblau verfärbt war und aufgedunsen
wirkte. Dann sah er zu Kunze. „Woran ist der gute
Mann eigentlich gestorben?“
„So wie es aussieht, war es ein Volk wild gewordener Bienen,
der sich auf ihn gestürzt hat. Das hat auch schon der
herbeigerufene Notarzt diagnostiziert, auch wenn er natürlich
nicht mehr helfen konnte.“ Kunze blickte missmutig zu
den tiefschwarzen Wolken, die mehr als einen kurzen Regenschauer
ankündigten.
„So, so. Ein Bienenvolk also …“
Juvanic musste erneut schmunzeln, während sie in Kelchbrunners
augenscheinlich verärgertes Gesicht sah.
„Wer hat uns eigentlich hierhergebeten?“, fragte er in die
Runde der Umstehenden und ein junger Mann in Polizeiuniform
trat vor.
„Das … war ich …“
„Ich? Hat dieses ‚Ich’ auch einen Namen?“
„Ja, ja, natürlich“, begann der junge blonde Streifenpolizist,
als eine starke Windböe seinen Notizblock erfasste,
ihn aus seinen Händen riss und durch die Luft wirbelte. Der
Mann rannte los und folgte dem beschriebenen Papier auf
ein schlammiges Stoppelfeld. Kelchbrunner blickte ernst zu
seiner Kollegin. Diese lächelte nur milde.
Der Streifenpolizist kam zurück und streifte den Schlamm
an seinen Schuhen an einem Grasbüschel ab, wobei er strauchelte
und beinahe das Gleichgewicht verlor.
„Das war ja eben ein wahrer Stunt. Haben Sie sich schon
mal überlegt, ins Showgeschäft zu wechseln?“
Der Gefragte errötete, sagte aber nichts.
„Hm, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja … Sie wollten
mir Ihren Namen mitteilen.“
„Schulze. Peter Schulze.“
„Nun, Herr Schulze, lassen Sie mich noch einmal alles
rekonstruieren. Man hat diesen Mann hier gefunden, Rettungswagen
und Polizei gerufen. Sie sind dann hierhergekommen,
haben ihn gesehen und was sagte der Notarzt?“
„Er sagte, der Mann sei wahrscheinlich Opfer eines Angriffes
durch Bienen geworden. Sein Körper sei übersät von
Einstichen, sodass das Gift genügend konzentriert war, um
den Mann außer Gefecht zu setzen und ihn letztlich zu töten.
Vielleicht habe er auch noch zusätzlich einen allergischen
Schock aufgrund einer Überempfindlichkeit erlitten.“
„Sehr interessant!“, erwiderte Kelchbrunner.
Kunze wandte sich ihm jetzt zu. „Herr Kommissar. Wenn
es Ihnen nichts ausmacht, würde ich den Toten jetzt gern
einladen.“
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können“, erwiderte Kelchbrunner
knapp und wandte seinen Blick nicht von Schulze ab.
„Also haben Sie die Mordkommission angefordert, weil
ein Schwarm Bienen einen Mann getötet hat? Sehe ich das
richtig?“
„Ich …, ähm, nein, natürlich nicht. Ich …“
„Haben Sie mal auf die Uhr geschaut? Es ist kurz nach
acht! Sie haben mich um meinen wohlverdienten Sonntagmorgenschlaf
gebracht wegen dieser Sache? Junger Mann,
ich muss Ihnen eines lassen. Sie haben Nerven! Und nun?
Was schlagen Sie vor?“ Kelchbrunner ging auf und ab. Er
blickte seine Kollegin mit dem Anflug eines leichten Grinsens
an, welches ihr signalisierte, dass gleich eine von Kelchbrunners
beliebten Pointen folgen würde. Schon wandte er
sich wieder Schulze zu und wurde ernst.
„Empfehlen Sie eine Großfahndung nach einem wild
gewordenen Bienenschwarm rauszugeben und die Täter
mithilfe ihrer Stachel zu identifizieren? Da muss ich Sie jedoch
leider enttäuschen, denn jede Biene, die einmal einen
Menschen gestochen hat, stirbt sehr schnell, denn sie verliert
ihren Stachel und dort, wo der Stachel war, klafft ein tiefes
Loch. Nämlich im Hintern!“ Er senkte seine Stimme. „Halten
wir also fest: Die Täter dürften bereits tot sein!“
Der Streifenpolizist blickte beschämt unter sich.
„Aber Moment! Sie haben ja so recht! Ist es nicht so, dass
die Biene an sich als einzelnes Individuum keinerlei Schuld
tragen kann, sondern dass alle Bienen eines Staates in einer
Art von Kollektiv miteinander arbeiten? Das Beste wird also
sein, ich gebe eine Großfahndung nach einem ganzen Bienenvolk
heraus. Ich schlage vor, wir lassen schon mal eine
Staffel Braunbären nach dem Honig suchen!“
Juvanic tat der junge Polizist jetzt extrem leid. Denn der
wäre sicher am liebsten im Boden versunken. Doch es war
die Feuerprobe, die jeder bestehen musste, der sich in die
Nähe des Urgesteins Kelchbrunner traute.
„Ich …, ich war mir nicht sicher und deshalb …“
Der Kommissar lachte bereits jetzt laut auf, ohne sich
die weiteren Ausführungen des Streifenpolizisten anzuhören.
„Nicht sicher? Sie waren sich also nicht sicher? Und
wenn Sie sich nicht sicher sind, dann holen Sie einfach
mal blindlings die Mordkommission? Wenn Sie das nächste
Mal einen Falschparker erwischen und sich nicht sicher
sind, wo der Fahrer ist, fordern Sie dann das SEK an, oder
was?“
„Nein!“ Es schien so, als hätte Kelchbrunners Frotzeln
endlich gewirkt. Denn der junge Polizist schien nun allen
Mut zusammenzunehmen: „Todesursache waren die Bienenstiche.
Die Bienen waren die Täter.“
„Aber?“
„Aber der Mann starb wohl am frühen Morgen. Zu der
Zeit war es noch dunkel. Bienen sind nicht nachtaktiv. Zumindest
fliegen sie nicht in der Dunkelheit herum, um Leute
anzugreifen.“
Ein extrem lauter Donnerschlag kündigte an, dass es nicht
mehr lange dauern konnte, bis Unmengen Regen niederprasseln
würden. Daher versuchte Kelchbrunner, das Gespräch
ein wenig abzukürzen. „Ihr Fazit?“
„Bitte?“
„Na, was ist Ihr Fazit? Was vermuten Sie?“
„Ich weiß es nicht. Aber es gibt hier weit und breit keinen
Bienenstock, soweit man das sehen kann. Es gibt Killerbienen
in Amerika, die tatsächlich extrem feindselig sind. Aber
die gibt es bei uns sicherlich nicht.“
„Also, was ist Ihr Fazit?“
„Mein Fazit … Also ich würde sagen, es war …“
Ein weiterer Donnerschlag vermischte sich mit dem
Wörtchen „Mord“ zu einer hochbrisanten Mischung. Es
war, als hätte das ungleiche Tonpaar die Schleusen des Himmels
geöffnet. Wolkenbruch war noch ein harmloser Ausdruck
für das, was die Umstehenden in die Wagen flüchten
ließ. Schulze staunte nicht schlecht, als er sich im Streifenwagen
nicht neben seiner Kollegin wiederfand, sondern neben
Kelchbrunner, der sich flugs auf den Beifahrersitz geflüchtet
hatte. Schulze starrte den Kommissar verunsichert an.
„Keine Sorge! Ihre Kollegin ist im Wagen meiner Kollegin
untergekommen. Mann, Junge. Ich dachte, das wird nie mehr
was! Du hast es mir aber auch schwer gemacht!“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, dich aus der Reserve zu locken natürlich. Zu erreichen,
dass du mir deine Meinung offen sagst. Und ich sag dir
eins: Du hast was drauf! Ein andrer hätte vielleicht gepennt
und alles als einen unglücklichen Unfall abgetan. Oder er
hätte, um sich kein Kuckucksei ins Nest zu legen, einfach die
Klappe gehalten und seinen Verdacht erst gar nicht geäußert.
Ich mag Leute, die für ihre Meinung eintreten und sich so
was trauen. Und nun, fahren wir los?“
Erleichterung machte sich in Schulzes Gesicht breit. Er
drehte den Zündschlüsel. „Wo soll es hingehen?“
„Hast du diesen Mann gekannt?“
„Nein, nicht, dass ich wüsste. Er heißt Dr. Hubert Görens,
laut Personalausweis.“
„Ich kenne ihn. Er ist Versuchsleiter eines Feldes mit genetisch
verändertem Mais hier in Bodenheim. Ich war gestern
noch auf einer Versammlung, auf der er gesprochen
hat, und hab auch in letzter Zeit einiges darüber gelesen.“
„Wirklich?“
„Ja, und deswegen würde ich vorschlagen, wir schauen
mal bei dem Versuchsfeld vorbei. Es müsste, wenn ich mich
nicht irre, dort unten sein.“
Schulze startete den Streifenwagen und fuhr los. Es goss
in Strömen, die Scheibenwischer kamen kaum nach. Nur wenige
Meter weiter befand sich das Maisfeld und nachdem sie
es erreicht hatten, war zu erkennen, was Kelchbrunner bereits
vermutet hatte. „Und weg ist es …“ Er konnte sich ein
Grinsen nicht verkneifen und blickte auf die umgeknickten
und abgerissenen Maispflanzen.
„Sie …, es scheint, als ob Sie sich darüber freuen.“ Verwunderung
machte sich in Schulzes Gesicht breit.
„Nein, nein. Ich freue mich nicht darüber. Ich bin ganz
ehrlich gesagt nur ein wenig … erleichtert. Ich meine, es
ist eine Straftat, keine Frage. Wer diese Pflanzen auch immer
vernichtet hat, ist ein Verbrecher, der bestraft gehört.
Doch jene Verbrecher, die uns als Versuchskaninchen missbrauchen
und in solchen Freilandlaboratorien irgendwelche
Dinge austesten, die uns am Ende krank machen könnten,
denen gehört die Genehmigung für solche Felder erst gar
nicht erteilt! Dann passiert so was nicht.“
„Das bringt Geld …“
„Ja, genau. Den Aktionären und den Konzernen bringt
es Geld. Den Menschen in der Umgebung solcher Anlagen
und den Konsumenten der genetisch veränderten Produkte
bringt es ausschließlich nur das Risiko. Keiner weiß, welche
Langzeitwirkung das Zeug hat. Und so sicher, wie die Konzerne
tun, sind sie sich wohl auch nicht, was die Harmlosigkeit
der Grünen Gentechnik angeht. Warum sonst hätten sie
die Haftung bei entstehenden Schäden abgelehnt und auf
die Landwirte oder den Staat übertragen wollen?“
„Ich bin ja auch kein Freund der Gentechnik.“
„Aber auch kein Feind, stimmts?“
„Ich mag es nicht.“
„Das mag sein. Aber tust du was gegen das, was du nicht
magst? Trittst du ein gegen das, was dir als Bedrohung erscheint?“
Der Streifenpolizist schüttelte den Kopf. „Das nutzt doch
eh nix.“
„Genau! Und das ist deren Vorschusskapital! Wer
schweigt, unterstützt das, was er verabscheut.“
Schulze nickte nur knapp.
„Aber das ist ein anderes Thema … Muss jeder selbst wissen,
was er tut und wofür er eintritt.“ Frustration klang in
Kelchbrunners Stimme mit. Mehr, als ihm lieb war.
Betretenes Schweigen erfüllte den Wagen, dessen Scheiben
innen allmählich beschlugen. Das Versuchsfeld, das
eher einem Schlachtfeld glich, war völlig überschwemmt. Als
wolle der Himmel jene Neuschöpfung, jenen Eingriff ins
ursprüngliche Genom, vom Erdboden tilgen und für einen
kurzen Moment kamen dem Kommissar die Bibel und Noah
in den Sinn. Er schob den Gedanken beiseite, dass auch heute
die Schlechtigkeit auf der Welt zunahm und der Klimawandel
Überflutungen biblischen Ausmaßes verursachen
würde. Er erschauderte bei dem Gedanken und schüttelte
kurz und fast unmerklich den Kopf, um ihn loszuwerden.
Schnell zückte er sein Handy. Dann wählte er eine Nummer
und tönte mit beinahe melodisch amüsiertem Tonfall:
„Hallo, Frau Kollegin. Ich hoffe, die SpuSi hat noch nicht
ihre sieben Sachen gepackt und ist bereits ausgeflogen. Es
gibt hier nämlich ein … kleines Detail, das ihre volle Aufmerksamkeit
erfordert. Sagen Sie der SpuSi, sie sollen dem
Straßenverlauf einfach folgen. Wir warten hier … Ach ja!
Und sagen Sie ihnen, sie sollen die Gummistiefel auspacken,
vorausgesetzt, sie haben welche dabei. Bis dann!“ Er ergänzte
noch, dass die Damen und Herren der Spurensicherung
doch bitte auch auf Bienen achten sollten, die irgendwo auf
dem Weg zu finden seien. Sollte der Regen sie nicht mitsamt
allen anderen Spuren weggewischt haben …
Zweites Kapitel
… in dem sich die Frage stellt, ob es Unfall oder Mord war. Können
Bienen zu einer Mordwaffe werden? Kommissar Kelchbrunner verhält
sich ungewohnt impulsiv und subjektiv. Was treibt ihn derart um?
„Du glaubst also, es war tatsächlich Mord?“ Juvanic konnte
sich mit dem Gedanken noch nicht so recht anfreunden: Bienen
als Tatwaffe in einem Mordfall?
Beide Kommissare waren inzwischen wieder in ihrem
Büro angekommen, nachdem ein fliegender Wechsel in den
jeweiligen Fahrzeugen stattgefunden hatte: Kelchbrunner
war zu seiner Kollegin ins Auto gestiegen, die Streifenpolizistin
zu Schulze in den Streifenwagen.
Der Kommissar schlürfte an seiner Tasse mit heißem grünen
Tee und blickte aus dem Fenster. Draußen schien gerade
die Sonne. Doch hatte das nichts zu sagen. Der Sommer war
in diesem Jahr wie sonst der April.
„Katharina, also ich habe mir einige Male die Frage gestellt,
ob es denn nun Mord gewesen sein könnte, oder nicht.
Und ich komme immer zur gleichen Antwort: Was sollte
es denn sonst gewesen sein? Ich meine, rekonstruieren wir
doch mal die ganze Sache.“
Kelchbrunner sah seine Kollegin an, trat an seinen
Schreibtisch, stellte die Tasse dort ab und setzte sich auf das
halbwegs freie Stück der braunen Tischplatte. „Ein Mann, ein
Doktor der Biologie, verlässt offenbar mitten in der Nacht
seine Wohnung. Er begibt sich zu Fuß auf unbeleuchtetes
Terrain, in jene Richtung, in der das Versuchsfeld liegt, das er
betreut. Er läuft durch die Dunkelheit und zack …“ – Kelchbrunner
schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch,
sodass die Teetasse klirrte und Juvanic zusammenzuckte –
„… schon rast ein Schwarm Bienen aus der Dunkelheit auf
ihn zu, sticht ihn und er stirbt entweder am Gift oder an einer
Allergie. Gleichzeitig wird das Versuchsgelände verwüstet.
Von den Bienen existiert keine offensichtliche Spur. Wir
haben keinen Bienenstock direkt an dem Feldweg entdeckt
und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass jemand auf die
Idee käme, dort ein Bienenvolk anzusiedeln.“
Der Kommissar schlürfte erneut kurz an seinem Tee,
schob die Tasse mit dem noch immer zu heißen Getränk
beiseite, erhob sich, ging einige Schritte zum Fenster und sah
zu den Wolkenfetzen, von denen sich einer gerade wieder
vor die Sonne schob.
„Mir stellen sich drei Fragen. Erstens: Warum um Himmels
willen geht dieser Mann mitten in der Nacht ins Feld?
Und das schier zu dem Zeitpunkt, in dem auch sein Versuchsgelände
zerstört wird. Zweitens: Wie kann es sein,
dass ein Bienenvolk derart aggressiv auf einen Menschen
reagiert, der sich nicht mal in der Nähe eines bestehenden
Bienenstockes aufhält? Und – last, but not least – drittens:
Wie konnten die Bienen den Mann überhaupt wahrnehmen?
Ich meine, es war Nacht und da sind Bienen, soweit ich weiß,
nicht aktiv. Und warum stachen sie mit solch einer Aggression
zu? Das ist alles schon sehr seltsam.“
„Auf die erste Frage hätte ich vielleicht eine Antwort.
Gestern hatte dieser Dr. Görens nachmittags eine Informationsveranstaltung
anberaumt und es wurden äußerst kritische
Töne laut, was diesen Genmais-Anbau anging. Es gab
schon sehr viele Zerstörungen an anderen Anlagen mit genetisch
veränderten Pflanzen. Die Stimmung war während
der Veranstaltung sehr aufgeheizt. Vielleicht planten die Genmais-
Gegner, das Versuchsfeld zu zerstören und Görens bekam
Wind davon, ist losgelaufen, um sie daran zu hindern.“
„Ach was!“ Kelchbrunner winkte ab. „Die Stimmung war
doch nicht aufgeheizt. Der ärgste Kritiker, ein Herr Ziegler,
hat nur auf die Risiken hingewiesen und ...“
„Du warst dort?“
„Ja, sicher. Ich war dort, denn ich wollte hören, was beide
Seiten zu sagen haben. Und ich muss klipp und klar sagen:
Die Kritiker haben deutlich bessere Argumente vorgebracht
als die Befürworter. Die Forscher argumentierten damit,
dass durch die Grüne Gentechnik vor allem der Hunger bekämpft
werden soll. Dass dadurch aber einzig der Hunger
nach Geld bekämpft wird und Patente über Saatgut die Menschen
in den armen Staaten abhängig machen, die das teure
Saatgut dann kaufen müssen, das sagen sie nicht.“
Juvanic lächelte verblüfft. Ihr Kollege schaffte es immer
wieder, sie zu überraschen. „Du und Umweltschutz? Das
hätte ich nie gedacht.“
„Das klingt ja fast, als hätte ich eine ansteckende Krankheit.“
„Nein, ich hätte nur nie gedacht, dass du dich so stark für
die Umwelt interessierst.“
Kelchbrunner atmete tief und laut hörbar ein und wieder
aus: „Wusstest du, dass die Orang-Utans in wenigen
Jahrzehnten nur noch im Zoo zu sehen sein werden? Der
Mensch hat sie an den Rand der Ausrottung gebracht, ihre
Lebensräume zerstört. Wie bei vielen anderen Tierarten auch.
Und wusstest du, dass letztens eine Delfinart ausgestorben
ist – eine im Ganges? Wusstest du, dass die Gentechnik bei
Weitem nicht so ungefährlich ist, wie andauernd behauptet
wird? Und du wunderst dich allen Ernstes, dass ich mich
für die Umwelt interessiere? Ich meine, wir leben doch von
dem, was dort draußen existiert. Müsste es nicht eigentlich
umgekehrt sein und müsste man sich nicht wundern, wenn
sich jemand nicht für den Umweltschutz einsetzt?“
„Hm, stimmt. Eigentlich hast du recht …“
„Und uneigentlich kann man eh nichts ändern. Ich weiß,
ich weiß …“ Kelchbrunner konnte den Gram in seiner Stimme
nicht wirklich verbergen. „Nun gut, dann könnten wir
ja auch einfach die Hände in den Schoß legen, den Mörder
frei rumlaufen lassen und sagen: Das liegt eben in der
menschlichen Natur, dass Menschen andere Menschen töten.
Da kann man nichts machen. Das wäre doch ganz einfach,
oder?“
Juvanic kannte ihren Kollegen nicht derart zynisch. Zumindest
nicht ihr gegenüber. Kelchbrunner wiederum atmete
erneut tief durch. Sein Blick offenbarte, dass ihm seine
Reaktion selbst sehr unangenehm war. Schnell wechselte er
das Thema. „Hatte Görens eigentlich Familie?“
„Nein, er lebte in Bodenheim alleine. Die Eltern sind beide
tot. Er hat zwar einen Bruder, doch der arbeitet als Forscher
in Brasilien. Eine Feldforschung in einem Flussdelta.
Vermutlich dürfte er nur schwer zu erreichen sein, schaut
man sich die Verhältnisse mitten in der Wildnis an. Ich werd
aber trotzdem versuchen, ihn über die Deutsche Botschaft
zu erreichen.“
„Wir sollten uns erst mal seine Wohnung anschauen. Vielleicht
finden wir dort Anhaltspunkte dafür, ob er wirklich
von Plänen wusste, dass das Maisfeld verwüstet werden sollte.“
Juvanic nickte. „Wenn du willst, schau ich mir das später
direkt mit ein paar Leuten der SpuSi an.“
„Okay, dann werde ich mal bei unserem lieben Herrn
Kunze vorbeischauen, ob er schon was sagen kann.“
„Wir sollten morgen früh auch bei seinem Arbeitgeber
vorbeischauen, der Genologisch AG in Mainz. Ich kann mir
gut vorstellen, dass die Näheres zu den Gentech-Gegnern
sagen können. Und diesen Ziegler müssen wir befragen. Er
ist der Hauptverdächtige als Rädelsführer dieser Bürgerinitiative.“
Kelchbrunner schüttelte den Kopf. „Ich glaub nicht, dass
er es war.“
„Ach ja? Und warum bist du da so überzeugt?“
„Ich weiß nicht. Mein Gefühl sagt mir, dass dieser Mann
für seine Überzeugung einsteht, aber niemals über Leichen
gehen würde. Das würde gegen seine Prinzipien verstoßen.
Es sind die, die er bekämpft, die über Leichen gehen. Und
er verurteilt das.“
„Das Gefühl kann einen oft täuschen.“
„Mag sein.“ Kelchbrunner spürte, was in Juvanic vorging,
und warf ihr einen beruhigenden Blick zu. „Keine Angst!
Ich bin Profi genug und werde sicherlich nicht aufgrund
meiner Überzeugung einen potenziell Verdächtigen außer
Acht lassen. Dort draußen ist ein Mord passiert und ich will
den Mörder fassen! Egal, wer es ist. Wir können Ziegler ja
gemeinsam befragen, wenn du willst.“
„Ja, sehr gerne.“ Juvanics Gesichtszüge entspannten sich.
Doch in ihrem Innern brodelte das Gefühl der Unsicherheit.
Sie war sich nicht sicher, was es war, doch irgendetwas an
dem Fall schien ihren Kollegen emotional besonders zu beschäftigen.
Er wirkte seltsam angespannt, auch wenn er dies
mühsam zu verbergen suchte. Und auch das plötzlich derart
gesteigerte Umweltbewusstsein verwunderte sie.
Juvanic kannte Kelchbrunner bereits seit acht Jahren. Damals
war sie mit 25 Jahren von einer Polizeiinspektion in
Mainz, wo sie nach ihrem Fachhochschulabschluss nur relativ
kurze Zeit gearbeitet hatte, zur Mordkommission Oppenheim
gewechselt, während Kelchbrunner mit seinen damals
38 Jahren schon beinahe zu den „mittelalten Hasen“ zählte.
Er hatte schon immer hier gearbeitet und auch hier seinen
Vorbereitungsdienst absolviert.
Juvanic konnte sich noch gut an ihre erste Tage erinnern.
Damals hatte sie auch beim ersten gemeinsamen Fall die
Feuerprobe mit dem brummigen Kommissar bestehen müssen.
Dabei hatte sie ihm jedoch kein Oberwasser zugestanden,
sondern direkt gekontert. Das hatte ihn wohl schwer
beeindruckt und seitdem respektierte er sie.
Kelchbrunner war schon immer der Ruhepol gewesen
und sehr objektiv. Das war jetzt anders.
„35!“
Kelchbrunner blickte sein Gegenüber fragend an. Er hatte
gerade den weiß gekachelten Raum betreten, den er eigentlich
gerne mied. Auch deswegen, weil dies das Reich von
Kunze war, dem Gerichtsmediziner …
„Wie meinen? Bienenstiche, oder was?“
„Nein, nein! I wo! Überstunden! Ich habe inzwischen
schon wieder 35 Überstunden. Ich bin froh, dass mich meine
Kinder überhaupt noch Papa nennen, und nicht Onkel. Tja,
es wird halt gespart ohne Ende. Auch an den Neueinstellungen.
Da müssen die Alteingesessenen dann eben ran. Ohne
Rücksicht auf Verluste.“
Kelchbrunner nickte nur knapp.
„Haben Sie einen Teil Ihrer sehr wertvollen Zeit auch
dem Mann gewidmet, der hier vor über sechs Stunden in
Ihre heiligen Hallen gebracht wurde?“
„Sicher! Auch das.“
„Und?“
„Na, was und? Ich meine, erwarten Sie nun einen kompletten
Bericht, oder was? Eine genaue Untersuchung dauert
länger als sechs Stunden, zumal ich ja heute Nachmittag
auch noch alleine bin und dies nicht mal der einzige Fall ist,
den ich noch bearbeiten muss. Wie Sie wissen, ist Urlaubszeit
und zwei meiner Kollegen sonnen sich gerade irgendwo
am Mittelmeer den Wanst, während ich die Ehre habe, mich
mit Mordfällen herumzuschlagen.“
Kelchbrunner lächelte verschmitzt über einen spontanen
Einfall und ließ dem Gedanken Worte folgen: „Vielleicht
sollen Sie einfach eine Anzeige in der AZ schalten. ‚Achtung!
Wichtige Mitteilung an alle Mörder. Das Morden ist ab sofort
nur noch montags bis freitags von 8 bis 18 Uhr gestattet.
Sams-, Sonn- und Feiertage sind ab sofort urlaubsbedingt
mordfrei zu halten‘.“
„Ha, ha. Da hat wohl jemand mal wieder einen Clown
verschluckt, oder was? Also, um die Dauer Ihres Besuches
möglichst kurz zu halten, was sicher in Ihrem und meinem
Sinne ist, zu Ihrem Fall …“
Kunze trat zu dem mit rotblauen Flecken übersäten Körper,
an dem deutlich zu erkennen war, dass ein Gerichtsmediziner
seine Arbeit begonnen, aber noch nicht vollendet
hatte. „Ich habe insgesamt 41 Bienenstiche gezählt. Bei den
meisten steckte noch der Stachel mitsamt der Giftblase in
der Haut. Viele Stiche sind im Gesicht und am Hals zu finden.
Am Brustkorb, an den Händen, Armen und am Bauch
befinden sich nur wenige. An den Beinen fand ich keinen
einzigen Stich.“
„Aha, und was hat das zu bedeuten?“
„Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich keine Ahnung. Es ist
nur eine ungewöhnliche und mir unerklärliche Besonderheit
dieses Falles.“
„Na ja, auf diese eine zusätzliche unerklärliche Besonderheit
kommt es in dem Fall glücklicherweise nicht an. Woran
genau ist er gestorben?“
Der Gerichtsmediziner blickte Kelchbrunner an, als habe
der soeben die dümmste aller Fragen gestellt, die man sich
vorstellen kann. „Na, an den Bienenstichen natürlich. Oder?
Moment! Lassen Sie mich mal schauen. Ach, vielleicht ist es
auch dieses Messer hier, das meinem geschulten Blick entgangen
ist und das in seinem Rücken steckt … Natürlich
durch die Stiche, Herr Kollege!“
„Man kann eine Frage nicht verstehen. Man kann sie aber
auch gezielt falsch verstehen. Also, dann lassen Sie mich die
Fragestellung etwas umformulieren: Starb der Mann an der
Anzahl der Stiche oder aber an einer allergischen Reaktion?“
„Ich würde sagen, werter Herr Kommissar, er starb an
beidem. Ich habe große Mengen an Histamin in seinem Blut
nachweisen können und ich konnte auch Hinweise auf eine
Unverträglichkeitsreaktion gegenüber dem Eiweiß Phospholipase
A entdecken.“
„Phosphor … was?“
„Nicht Phosphor! Phospholipase A ist ein Bestandteil
des Bienengiftes, welcher am ehesten allergische Schockreaktionen
nach Stichen auslöst. Neben Hyaluronidase. Kurz
gesagt: Der Mann starb vorrangig an einem allergischen
Schock, der bedingt durch die große Menge Gift, welche in
seinen Körper gelangte, relativ schnell und heftig ausfiel.“
„Gut. Dann stellt sich nur die Frage, wieso die Bienen
den Mann derart oft gestochen haben. Ich meine, man kann
ja keine Biene scharfmachen wie einen Kampfhund, oder?
Und es gab ja auch keinen Bienenstock in der Nähe.“
„Herr Kollege! Sehen Sie einen Hut auf meinem Kopf
mit Fliegengitter? Ich bin kein Imker!“
„Imker! Genau, das ist es! Herr Kunze, ich muss sagen,
manchmal können Sie echt eine Hilfe sein, auch wenn das
gar nicht Ihre Absicht ist.“ Kelchbrunner wandte sich zum
Ausgang, um auf dem Weg dorthin zu murmeln: „Das
kommt zwar recht selten vor, aber immerhin …“
„Danke für die Blumen!“, gab Kunze zurück, doch Kelchbrunner
hatte den Raum bereits verlassen.
Der Krimi „Todes-Mais“ erschien im März 2014 im Leinpfad Verlag. Auf 186 Buchseiten verbindet er Hochspannung mit Information und ökologischem Hintergrund. Er ist bei mir direkt und auch im Buchhandel erhältlich, kostet 9,90 Euro. ISBN 978-3-942291-58-3
christine (Freitag, 06 Juni 2014 09:18)
Fulminanter Einstieg - fein, danke!
Torsten (Montag, 02 Juni 2014 18:34)
Dankeschön für die lieben Worte! Das ist eine gute Idee mit dem Kinder- oder Jugendbuch. Ich hatte auch schon mal überlegt, eines zu schreiben, dann kam aber der Krimi heraus... Ich werde das aber mal im Hitnerkopf behalten. Die Kinder sind schließlich die Zukunft und je mehr von ihnen die Natur als wichtig erachten und sie schützen wollen, desto besser ist es. Und der "kleine Mann" kann wirkich viel bewegen. Er ist die absolute Mehrheit der Menschheit und wenn sich viele Menschen zusammen für die Natur engagieren, können wir viel mehr bewegen, als wenn sich alle Staatschefs mit allen Konzeren weltweit zusammen setzen und faule Kompromisse aushandeln.
Eva Schmelzer (Sonntag, 01 Juni 2014 13:41)
Eine großartige Methode, die Problematik der Vernichtung der Vielfalt auf der Welt auch den Menschen nahezubringen, die das Thema, wenn es angeschnitten wird, sonst eher mit einem Schulterzucken abtun. Richtig spannend geschrieben und gleichzeitig die Tragik der Zerstörung unserer Erde verdeutlichend. Klasse!
Vorschlag an Torsten: Vielleicht mal an über ein Buch für Kinder und/oder Jugendliche nachdenken, das, in einer dieser Altersgruppe entsprechenden Rahmengeschichte eingebettet, ihnen aufzeigt, wie die Welt aussehen wird, wenn sie nicht alles tun, um den entgegenzuwirken? So ähnlich wie im „Todes-Mais“. Ob diese Kinder nun einmal Busfahrer, Banker, Polizist werden oder in Forschung, Politik und Wirtschaft gehen ist egal. Auch der „kleine Mann“ kann viel bewirken, wenn alle das gleiche Ziel haben: Die Vielfalt auf der Erde zu erhalten, soweit es nicht ohnehin schon zu spät ist.